Jutta Reichelt - Erst lesen, dann schreiben – oder umgekehrt?

Wenn Schriftsteller:innen über das Lesen sprechen, dann scheint es vor allem etwas zu sein, das dem Schreiben vorausgeht. Erst lesen, dann schreiben scheint die normale, die übliche Reihenfolge zu sein. Erst lesen, dann schreiben ist dementsprechend auch der Titel eines Buches, in dem Autor:innen Auskunft über ihre Lehrmeister:innen geben und damit zugleich eine Aufforderung verbinden: Lest, bevor ihr überhaupt mit dem Schreiben beginnt. Und vielleicht müssen wir dieses dem Schreiben vorausgehende Lesen sogar wie das Schreiben selbst erst einüben – jedenfalls legt das ein anderer Titel nahe, den ich beim Stöbern im Regal entdeckte: Die Kunst des Lesens als Teil der Schreibkunst.

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Aber auch, wenn wir keine Schreib-Noviz:innen mehr sind, wenn wir eine gewisse literarische Könnerschaft erreicht haben, lesen wir oft, bevor wir zu schreiben beginnen – aus Gründen der Recherche oder auf der Suche nach Anregungen. Womöglich ermahnen wir uns irgendwann, nun aber endlich mit dem Schreiben zu beginnen, sobald wir diesen einen, nur diesen einen Text noch gelesen haben. Vielleicht zögern wir durch ausschweifende Lektüren den Übergang zum Schreiben hinaus, weil uns der Anblick des legendären leeren Blatt Papiers ängstigt, weil wir fürchten, mit all den klugen und originellen, hochliterarischen oder wenigstens bestsellerverdächtigen Texten, die wir gerade gelesen haben, nicht mithalten zu können.

Aber irgendwann sitzen wir dann doch da, mit dem Stift in der Hand oder der Tastatur, dem Bildschirm vor uns. Vielleicht hat ein Abgabetermin uns den Übergang in die Schreibphase erleichtert, vielleicht hat uns auch einfach die Schreiblust gepackt. Und jetzt scheint sich das Lesen endgültig in eine Gefahr, eine Bedrohung zu verwandeln. Weil es uns die immer viel zu knapp bemessene Zeit raubt oder weil wir fürchten, dass sich fremde Töne, Sprachmelodien, Satzkonstruktionen in den eigenen Text, in den womöglich mühsam erst gefundenen Ton mengen.

Dieses Lesen, das sich von einer notwendigen Voraussetzung zu einer möglichen Belastung, ja Bedrohung des Schreibens wandelt, dieses Lesen, das begrenzt werden, das enden muss, ist das Lesen fremder Texte – was aber nicht endet, nicht enden kann, ist das Lesen des gerade entstehenden eigenen Textes und dieses so wichtige und unverzichtbare Lesen scheint mir oftmals übersehen, wenn vom Lesen als Teil des Schreibprozesses die Rede ist.

Dass wir nicht aufhören können zu lesen, wenn wir schreiben, ist eine fast banal anmutende Feststellung. Die meisten Schriftsteller:innen beginnen das Schreiben mit der Lektüre des letzten Absatzes oder der letzten ein oder zwei Seiten oder des am Vortag Geschriebenen, und einer der besseren Schreibtipps, die ich kenne, empfiehlt, das Schreiben mitten im Satz zu beenden, damit eine/r am nächsten Tag besser wieder „hineinkommt“ in den Text, was ja nur geht, wenn dieser unfertige Satz gelesen wird.

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Also lese ich ständig, während ich schreibe. Oder richtiger: ich versuche zu lesen, was da steht, versuche den eigenen Text so zu lesen, als sei er ein fremder. Wie wird ihn ein normaler Leser, eine normale Leserin lesen? War der ältere Mann, der mir vor vielen Jahren nach einer Preisverleihung begegnete, ein normaler Leser? Ich kann mich noch gut an ihn erinnern. Nachdem ich den prämierten Text vorgetragen hatte, kam er auf mich zu. Er wolle mir gerne persönlich gratulieren, sagte er und dass er sehr berührt sei von der Geschichte – er habe genau das Gleiche erlebt. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er glauben, es sei seine eigene Geschichte. Ganz aufgeregt war er und konnte das Ausmaß an Überschneidung kaum glauben. Auch ich war davon überrascht, immerhin gab es in dem Text einen Banküberfall mit mehreren Toten. Was mich dann wirklich verblüffte, war, dass es mir beim besten Willen nicht gelingen mochte, überhaupt irgendeine Ähnlichkeit zwischen der vorgetragenen Lebensgeschichte und meinem Text auszumachen.

Hatte der ältere Mann in meine Geschichte etwas hineingelesen oder hatte er umgekehrt etwas in ihr entdeckt, gefunden, das ich ihr zwar nicht bewusst-strategisch beigefügt hatte, das sie aber dennoch enthielt? Als ich es erlebte, kam mir diese Episode wie eine kleine skurrile Begebenheit vor, aber mittlerweile beschreibt sie für mich sehr zutreffend den Reiz und die ganz besonderen Möglichkeiten, die literarische Texte besitzen. Sie erlauben es uns, Erfahrungen zu teilen. Erfahrungen, die anders waren und zugleich ähnlich – denn darum geht es ja immer in der Literatur: dass sich im Besonderen das Allgemeine spiegelt.

Vielleicht erlaubte mein Text auch einfach, was gemeinhin als ein Qualitätsmerkmal literarischer Texte gilt – unterschiedliche Lesarten? Aber stehen denn all diese Lesarten, und seien sie noch so abwegig, gleichberechtigt nebeneinander? Gilt jede Aussage, jedes Urteil über einen Text gleichviel? So ist es zum Glück auch wieder nicht, die Triftigkeit, die Angemessenheit von Lesarten lässt sich diskutieren, begründen, befragen – und an diesem argumentativen Austausch dürfen sich dann theoretisch auch die Autor:innen beteiligen. Theoretisch, denn die Praxis einer jeden Schreibwerkstatt lehrt, dass die Urheber:innen eines Textes selten zu „idealen Leser:innen“ werden, ja dass „Texte oft klüger sind, als ihre Autor:innen“. Ein oft zitierter Satz, der meines Wissens keiner Person, keinem Werk zugeordnet werden kann. Ein Satz, der so rätselhaft nicht ist, wie er sich im ersten Moment anhören mag: Einerseits entstehen Texte in einem (oft langen) Prozess und es kann sich dadurch in ihnen eine Klugheit, ein Wissen vieler einzelner Momente summieren, über das die jeweiligen Autor:innen zu keinem Zeitpunkt als Ganzes verfügen. Zum anderen gehen in kreative Prozesse auch die Teile unseres „Wissens“ ein, über die wir reflektierend (noch) nicht verfügen. Texte verraten oft mehr über uns, „enthalten“ mehr von uns, als wir bewusst wahrnehmen (können).

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„Schreiben bedeutet, sich das eigene Denken anzusehen“, sagt Antje Rávic Strubel. Auch, wenn wir meist so tun als ob, wissen wir offenbar nicht immer, was wir denken – und wir wissen auch nicht immer, was wir schreiben: „Schreiben ist meistens unbewusst. Ich weiß nicht, woher die Sätze kommen. Wenn es gut läuft, weiß ich es weniger, als wenn es schlecht läuft“, sagt mit Siri Hustvedt eine Autorin, die so klug und belesen ist wie wenig andere.

Dass wir nicht genau wissen, was wir tun, wenn wir kreativ tätig sind, bedeutet nicht, dass unsere Entscheidungen keine Gründe hätten – wir können sie oft nur nicht sprachlich fassen, sie durchschauen. Aber oft erkennen wir, verstehen wir im Nachhinein, welch gute Gründe es gab – für die zunächst nur intuitiv empfundene Richtigkeit eines Perspektivenwechsels oder einer Auslassung, einer Wiederholung oder eines sperrig im Text-Raum stehenden Satzes. Auch deswegen müssen wir unsere im Entstehen begriffenen Texte immer wieder lesen – um den angelegten, aber noch unvollständig verstandenen Linien zu folgen und manchmal auch, um uns überhaupt für einen von mehreren bereit liegenden Fäden entscheiden zu können.

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Und wenn wir uns dann für einen Strang, ein Motiv, eine Geschichte entschieden haben, wenn wir all die großen und kleinen Entscheidungen getroffen haben, die das Schreiben erfordert, hört dann das Lesen auf? Meistens schon. Die Autor:innen, die ich kenne, und das trifft auch auf mich zu, verlieren, sobald der Text gedruckt, der Roman veröffentlicht ist, schnell das Interesse daran. Vielleicht weil wir eben vor allem schreiben, um zu schreiben. Der beendete, der fertige Text ist (hermetisch) abgeschlossen. Er ist nicht mehr wandelbar, nicht mehr lebendig, wir können ihn nicht mehr gestalten und bilden uns ja meist auch ein, wir wüssten alles Wichtige über ihn. Öfter als noch so begeisterte Leser:innen haben wir ihn gelesen, haben uns solange mit den Lesarten von Testleser:innen, Lektor:innen, Herausgeber:innen oder wem auch immer beschäftigt, bis der Text restlos entziffert scheint.

Aber längst nicht alle irgendwann einmal geschriebenen Texte werden mit so viel Aufmerksamkeit bedacht, es gibt auch die schnell hingeschriebenen, schon während ihrer Entstehung kaum zu entziffernden Texte. Es gibt Texte, die in dicken Papierstapeln verschwinden, verworfen werden und solche, die verloren gehen, vergessen werden.

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Einen solch vergessenen Text fand ich vor einigen Jahren in meinen Unterlagen. Ich soll es aufschreiben. Angeblich spielt es keine Rolle, wo ich beginne – ich könne auch mit der Beschreibung des Zimmers anfangen, in dem ich mich gerade aufhalte. Wenn es keine Rolle spielt, kann ich auch so anfangen: Ich soll es aufschreiben. Es. Was mit „es“ gemeint ist, weiß ich und weiß ich nicht. Würde ich nachfragen, wäre es ein weiterer Beleg dafür, dass ich zu viel nachdenke. Oder über die falschen Dinge. Es. Schreiben Sie es auf.

Erst nach mehrmaliger Lektüre dieser Notiz erinnerte ich mich, dass hier von Thomas Hellweg die Rede ist, dem Protagonisten meines ersten Romans Nebenfolgen, den ich nach der Fertigstellung des Romans noch eine Zeitlang nicht los wurde und daher kurzerhand in einer psychosomatischen Klinik unterbrachte, wo er von der zuständigen Psychotherapeutin aufgefordert wurde, aufzuschreiben, was ihm widerfahren war.

Schreiben Sie es auf! Immer wieder las ich diesen Satz, las ich diese vier Worte. Plötzlich kamen sie mir wie eine geheime Botschaft vor, die ich zehn Jahre zuvor verfasst und an mich gerichtet hatte – ohne sie lesen können. Und jetzt hatte sie mich endlich erreicht, jetzt da ich gerade mit mir rang, ob ich mich wirklich auf eine große autobiographische Erzählung einlassen sollte (etwas, das ich bis zu diesem Zeitpunkt vollkommen abwegig und auch ein bisschen peinlich gefunden hätte). Schreiben Sie es auf! Ich las meinen eigenen Satz – und fing an, zu schreiben …